Mittwoch, 26. November 2014

Für Isabell

Ich bin kein Fan von Zahlen. Ich kann mir nichts schlechter merken als Zahlen und Daten. Mit 13 hätte ich beinahe mein erstes offizielles Date verpasst, weil ich mir nicht merken konnte mit welcher Buslinie ich fahren sollte und vor allem nach wie viel Stationen ich hätte aussteigen sollen. Ich bin dann einfach gelaufen, denn orientieren wiederum kann ich mich sehr gut. Auch Geburtstage sind nichts was mir im Gedächtnis haften bleibt, das bekommt meine Verwandtschaft leider regelmäßig zu spüren. Es gibt nur ganz ganz wenige Zahlen und Daten die sich in mein Gedächtnis eingebrannt haben. Eine(s) davon ist der 19.August 1989.

Ich machte zusammen mit meinen Eltern zu dieser Zeit Urlaub am Plattensee, die meisten kennen ihn wohl eher als Balaton. Im Prinzip war der Balaton das Mallorca für DDR Urlauber. Man musste einfach wenigstens einmal dort gewesen sein. Im Gegensatz zu den Balaton-Urlaubern aus Westdeutschland konnten sich viele DDR Bürger keine Hotelunterkunft leisten und so war man auf den Camping-Plätzen quasi unter sich. Da meinen Eltern die "kulturelle Note" auch im Urlaub immer sehr wichtig war wurde mein Traum von 2 Wochen Strand und Badespaß sehr schnell von der harten Realität der Städtebesichtigungen verdrängt.

Bei einem dieser Ausflüge in ungarische Hochburgen der Kultur wurde uns von anderen DDR Bürgern ein Flugblatt in die Hand gedrückt. Ich habe leider nie erfahren was genau auf dem Zettel stand, aber meine Eltern erzählten mir viele Jahre später etwas vom "Paneuropäisches Picknick". Dieses Picknick sollte in 3 Tagen stattfinden. Ein Begegnungsfest bei dem für wenigen Stunden die Grenze zwischen Ungarn und Österreich symbolisch geöffnet wird. Zurück auf dem Camping-Platz führten meine Eltern viele Gespräche mit anderen DDR Campern über den Inhalt des Flugblatts. Mein Bruder und ich waren einfach nur froh wieder am Strand zu sein.

Am Morgen des 19. August offenbarten unsere Eltern mir und meinem Bruder ihre Gedankenspiele zusammen mit den anderen DDR-Bürgern, die sich in Sopron auf dem Festplatz einfinden werden, während dieses paneuropäischen Frühstücks nach Österreich zu flüchten. Auch wenn als 9-jähriges Mädchen das Vertrauen in meine Eltern grenzenlos war, so konnte ich mir natürlich nicht ausmalen was das für uns bedeuten würde. Wir fuhren mit unserem Lada zur Mittagszeit nach Sopron. Meine Eltern hatten unsere Papiere, etwas Bargeld und nur ganz leichtes Gepäck dabei. Ich hielt meinen Lieblingsteddybär ganz fest im Arm. Als wir ankamen waren schon einige 100 andere DDR Bürger auf dem Festplatz. Es herrschte eine latente Unruhe unter den Wartenden. Neben uns stand eine andere Familie. Sie hatten auch eine Tochter und einen Sohn. Das Mädchen sah älter aus als ich und war aber gleichzeitig einen halben Kopf kleiner als ich. Sie hatte einen ähnlichen fragenden Blick voller Ungewissheit wie ich. Sie kam ein paar Schritte auf mich zu und fragte wie ich heiße. "Fran", sagte ich. "Das ist aber ein komischer Name", sagte sie unglaubwürdig und dabei grinsend. "Ich heiße Isabell. Was hältst du davon wenn ich auf dich aufpasse und du auf mich?". Ich nickte stumm. 

Nur Augenblicke später setzte sich die versammelte Menschenmasse in Bewegung. Ca. 600 Personen waren es, wie ich später einmal erfuhr. Wir bewegten uns alle auf das Grenztor zu. Aus Gehen wurde Rennen und ich verlor zunächst Isabell aus den Augen und dann den Kontakt zur Hand meines Vaters. Ich blieb für einen Augenblick stehen, wurde angerempelt und mein Teddybär viel zu Boden. Eine Hand griff nach ihm und drückte ihn mir wieder in den Arm, es war Isabells Hand. Mit dieser ergriff sie nun meine Hand und so rannte ich an ihrer Seite, zusammen mit ihrer Familie die letzten Meter, bis wir schließlich die Grenze überquert hatten und ich auf der österreichischen Seite überglücklich meine Eltern wiederfand.

Die Ereignisse danach sind nur noch verschwommen, aber von dieser Flucht und den Tagen davor träume ich noch heute regelmäßig. Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich vermute das trotz der historischen Bedeutung auch dieses Datum nur eines unter unzählig vielen für mich geworden wäre, wenn ich an diesem Tag nicht Isabell kennengelernt hätte. Neben meiner Mutter gibt es wohl keine Frau die mein Leben so nachhaltig beeinflusst und geprägt hat wie sie. In den Jahren nach der Flucht blieben wir über Briefe in Kontakt und besuchten uns in den Ferien so oft es ging. Irgendwann gab es ja auch dann bei uns endlich ein Telefon und wir konnten uns ab dann jeden Tag sprechen. Wir waren wie Schwestern, nur noch enger mit einander verzahnt. Wir konnten uns bei Liebeskummer gegenseitig die Ohren voll heulen und über den selben Typen lästern auch wenn die andere von uns ihn im Grunde genommen ganz süß fand. Wenn ich ehrlich bin, ohne Isabell könnte ich vermutlich heute noch nicht richtig küssen ;-).

In den letzten 10 Jahren haben wir so ziemlich jeden Blödsinn miteinander durchgemacht den man sich nur vorstellen kann und waren immer für einander da, wenn der andere mal tief in der Scheisse Tinte gesessen hat. Wenn ich da nur an deinen Ablenkungsflirt mit dem Polizisten denke schlackern mir heute noch die Ohren.

Zwischen Berlin und Porto Alegre liegen über 11,000 km ist dir das eigentlich klar? Ja natürlich gibt es Skype, Facetime und Co. aber kann das eine Lass-dich-drücken-dann-wird-alles-wieder-gut-Umarmung übermitteln? Wie viel Spontanität, Situationskomik und blindes Verständnis kann so eine Fernfreundschaft denn enthalten? Entschuldige meine Skepsis. Ich weiß um deinen Traum, ich habe ihn dir ja selbst vor Jahren als Idee ins Ohr gelegt.
Die Kinder dort vor Ort brauchen dich und Du und dein Wirken sollen ein Segen sein, für diese Kinder.

Liebste Isabell, ich werde mir nie merken können wann du Geburtstag hast oder dein Hochzeitstag ist, aber ich werde nie vergessen wann ich dich kennengelernt habe. Es war der 19. August 1989.

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