Hallo ich bin Fran Niclas und das hier ist mein Blog

Montag, 30. September 2013

Über Abschiede - Teil 1

Es ist vollbracht. Endlich kann ich die Füße hoch auf die Kingsize-Couch auf meiner Veranda legen und verträumt über den Sinn des Lebens sinnieren und dabei ab und an ein Schluck von meinem Rotwein trinken, draußen geht gerade die Sonne unter und das Haus wirft einen beschützenden Schatten auf mich. Es ist ein herrlicher 30.September 2014.

Es könnte so schön sein, aber leider ist heute erst der 30.September 2013 und ich sitze hier in eingestaubten Arbeitsklamotten und meine Kingsize Couch ist nur kleiner hölzernen Klappstuhl und meine Finger sind vollgeschmiert mit Tapetenkleister und Spachtelmasse während sie diese Zeilen schreiben und ab und an nach dem kühlen Bier greifen das neben mir auf dem Boden steht.

Auch wenn ich äußerlich ziemlich fertig aussehe, verspüre ich in meinem Inneren eine unglaubliche Zufriedenheit. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, das handwerkliche Arbeit mir solch einen Spaß macht. Als Außenstehende habe ich Handwerker immer bewundert für ihr Können und auch für ihren Ideenreichtum wenn etwas nicht funktioniert. Mein Vater ist so ein Handwerker. Ich kann mich nicht erinnern, das es etwas gegeben hätte was er nicht reparieren konnte. Er hatte irgendwie immer ein Verständnis dafür wie die Dinge funktionieren. Ich kann mich noch erinnern wie es war als ich klein war und bei uns zu Hause etwas kaputt ging. Zuerst zog er immer sein Brille von der Stirn auf die Nase. An den Bügeln seiner Brille war immer eine dieser Schnüre befestigt, die man um den Hals trägt damit die Brille nicht runterfallen kann. Ich kann mich aber nicht erinnern das die Brille jemals an der Schnur nach unten vor seinem Bauch hing, sie war immer auf der Stirn, oder auf der Nase.

Nachdem er die Brille auf der Nase hatte, schaute er sich den kaputten Gegenstand an, seufzte und schaute dann nochmals auf den Gegenstand, wobei sein Kopf sich immer in eine merkwürdige Seitenneigung nach rechts begab. Dann durfte ich immer seine Werkzeugrolltasche aus der Abstellkammer holen und den schwarzen abgewetzten Ledergurt öffnen der die Rolltasche zusammenhielt. Er griff sich dann einen Schraubenzieher und öffnete das Gerät. Ich könnte schwören es war immer der selbe Schraubenzieher mit dem roten Griff, egal wie groß oder klein die Schraube auch war, aber vermutlich ist das nur in meiner Erinnerung so. Im Anschluss nahm er einen Finger und zeichnete in der Luft den Weg der elektrischen Leitungen nach oder was auch immer sich in dem Gerät noch befand. Dann schien er gedanklich in eine andere Welt abzudriften, sein Blick war entrückt und ich starrte ihn mit großen Augen voller Bewunderung an. Ich weiß nicht mehr wie lange diese Phase des Nachdenkens ging, aber wenn sie zu Ende war zwinkerte er mir zu und reparierte den Gegenstand wie von Zauberhand. Mein Vater war und ist mein Held.

Er konnte nicht nur Dinge reparieren, er konnte welche erschaffen. Er hat meiner Mama zur Hochzeit ein Haus geschenkt, ein Haus das er ganz allein gebaut hat. Sie wohnen jetzt seit über 35 Jahren in diesem Haus. Wenn ich mir alte Bilder aus dieser Zeit anschaue, dann trug er sogar damals schon die Brille auf der Stirn. Natürlich mit Schnur.


Neulich habe ich meine Eltern besucht in ihrem Haus. Ich gehe immer einmal alle Zimmer ab im Haus meiner Eltern, wenn ich zu Besuch bin. Es ist als würden in jedem Raum die alten Geschichten darauf warten, das ich mich an sie erinnere. Mein Vater war noch draußen Holz hacken und meine Mama setzte Tee in der Küche an. Eigentlich trinke ich nie Tee, aber wenn ich zu Besuch war gab es immer Tee. Meine Mama hat mich nie gefragt ob ich eigentlich Tee möchte oder nicht und ich hab nie gesagt das ich eigentlich keinen Tee trinke, so wurde das Tee trinken bei uns zur Tradition.

Ich ging also durchs Haus und kam in der Wohnstube an. Ich schaute durch den Schleier des Gardinenstoffes und beobachtete meinen Vater einen Moment lang beim Holzhacken. Präzise wie ein Uhrwerk schwang er das Beil und spaltete die Holzscheite mit einem Schlag. Ich wollte gerade das Wohnzimmer verlassen, da fiel mein Blick auf den kleinen Tisch neben seinem Fernsehohrensessel. Dort lag sein Brille. Ich ging näher und betrachtete sie, aber ich konnte keinen Makel daran feststellen. Warum hat mein Vater
also seine Brille nicht auf? Meine Mutter kam mit dem Tee herein und wir tranken ihn wie eh und je.

"Da drüben liegt Papas Brille."

"Oh. Du hast recht. Er hat sie vermutlich vergessen."

"Vergessen? Papa hat noch nie seine Brille vergessen,
er und die Brille sind doch quasi eins."

Ich nahm die Brille vom Tisch, rannte die Treppe hinunter und durch die Tür zum Innenhof. Ich rannte als ginge es um Leben und Tod.

"Hier Papa dein Brille" fing ich an zu rufen, obwohl ich noch rund 10 Meter von ihm entfernt war. Er ließ die Axt sinken und schaute etwas verdutzt in meine Richtung. Es war aber nicht diese Form von Verdutztheit in der man sich darüber wundert was gerade passiert ist. Für einen Moment wirkte es eher so als müsste er überlegen wer ich bin, bevor er mich herzlich in den Arm nahm und zur Begrüßung einen Kuss auf die Stirn gab, wie er es immer tat, seit über 30 Jahren.

Er setzte die Brille auf seine Stirn, legte die Schnur in seinen Nacken und fing wieder an Holz zu hacken. Meine Mama war nun ebenfalls bei mir eingetroffen und zog mich ein Stück beiseite. Ihre Augen waren feucht glänzend. Sie brauchte es nicht auszusprechen, was ihr in diesem Augenblick soviel Kummer bereitete. Mein Vater leidet an Demenz, die Ärzte haben es inzwischen bestätigt.


Mein Vater war nie jemand der viel Aufhebens über Gefühle und den Tod gemacht hat, ihm wäre es am liebsten er würde während seiner Arbeit einfach tot umfallen, das wäre für ihn ein ehrenhafter Tod. Das er sich nun mit diesem schleichenden Verfall auseinander setzen muss macht ihm mehr zu schaffen als alles andere. Ich weiß das die Krankheit irgendwann zum Tod führen wird, aber auf dem Weg dahin wird es noch viele schwierige Situationen geben, die es zu überstehen gilt. Jeder Tag wird ein Abschied sein von kleinen Dingen, Fähigkeiten oder Erinnerungen. Irgendwann wird der Tag kommen wo er nicht mehr weiß wer ich bin, an diesem Tag werde ich von seiner Tochter zu einer Fremden. Mein Herz krampft sich zusammen vor Trauer um diese Gewissheit, das der Tag kommen wird, an dem er mir keinen Kuss mehr auf die Stirn geben wird, weil er nicht mehr weiß das ich seine kleine Fran bin.

Zum ersten Mal in seinem Leben gibt es etwas das mein Vater nicht reparieren kann und ausgerechnet diese eine Sache wird sein Tod sein. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als das es irgendwann jemand geben wird der Demenz reparieren kann um allen anderen Menschen auf dieser Welt davor zu bewahren.